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Lesetipp: Angst, Stress und Unsicherheit beim Pferd

Kathrin Wycisk von kreativepferde.de  war vergangenen Winter für einen Kurs bei uns. Nun gibt sie nicht nur Kurse, sondern hat gemeinsam mit Christine Dosdall und Vivane Theby ein Buch geschrieben. Die liebe Kathrin hat mir ein Rezensionsexemplar davon zukommen lassen. 

Ob es sich zu lesen lohnt? Das erfährst Du jetzt:

Worum geht´s?

Auf 175 Seiten erklären dir Christine Dosdall, Viviane Theby und Kathrin Wycisk wie und warum Angst, Stress und Unsichert beim Pferd entstehen, wie sie sich äußern und wie Du damit umgehen kannst.

Als ich einer Freundin erzählte, dass ich im Moment diese Buch lese, hat sie mich ganz verduzt gefragt: "Ist das nicht ein sehr spezielles Thema? Kann das überhaupt ein ganzes Buch füllen?". Zuerst musste ich schmunzeln. Nach ein paar Augenblicken hat mich diese Frage aber sehr traurig gestimmt. Bevor es in die Tiefen des Buchs geht, darf ich Dir vorab schon eines verraten: Das Thema Angst, Stress und Unsicherheit ist komplex - und womöglich verkannt. Die Autorinnen bringen es gleich zu Beginn auf den Punkt:

 „Während manche Pferde für ihre Besitzer durchs sprichwörtliche Feuer gehen, gibt es auch solche, die vermeintlich endlos Probleme machen und ihre Menschen damit vor immer neue Fragen und Herausforderungen stellen.“ (S. 16)

Was das ganze mit Angst, Stress und Unsicherheit zu tun hat? Das erklärt Dir das Autorenteam ganz genau!

Was steckt drin?

Das Buch besteht aus zwei großen Teilen, die einen ziemlich gleichen Umfang haben. Diese beiden Teile sind jeweils in zwei Hauptkapitel (wiederum mit Unterkapiteln) unterteilt:

Teil I: Biologie und Gehirn

Das Pferd - ein Angsthase?

Denken, Fühlen, Spüren - wie die Angst ins Pferd gelangt

Teil II: Lernen in Theorie und Praxis

So lernen Pferde

Praxisübungen

Der erste Teil beschäftigt sich mit der Frage, wie Angst und Stress entstehen und was dabei im Körper und Gehirn des Pferdes passiert.

Hört sich staubtrocken an? Ist es aber nicht - die Autorinnen vermitteln diese Thematik nämlich super spannend! Die Erläuterungen reichen von Ausführungen zur Evolution des Pferdes, bis hin zu dessen Grundbedürfnissen und Eigenarten. Warum diese Erläuterungen wichtig sind? Weil sie deutlich machen, dass so manch gezeigtes Verhalten nicht böswillig, aufmüpfig oder gar die viel benannte "Verarsche" ist, sondern schlicht und ergreifend arttypisches Verhalten darstellt. 

Die Autorinnen erklären die Unterschiede zwischen den einzelnen Begriffen Angst, Furcht, Stress und Unsicherheit ebenso wie die einzelnen Stresstypen, Reaktionsmöglichkeiten, Bewältigungsstrategien und Vorgänge im Pferdehirn. Und auch das ist keineswegs langweilig! Denn so wird deutlich, was eigentlich passiert im Pferdekörper. Die Ausführungen sind wirklich sehr umfassend und ausführlich, dabei aber leicht zu lesen und verstehen. Zwei Punkte möchte ich an dieser Stelle aufgreifen, weil sie mit hartnäckigen Mythen aus der Pferdewelt aufräumen:

Großes Reinemachen!

Mythos Nr.1: Die Dominanztheorie (in der Herde ist schließlich auch Einer der Chef!)

Pferden wird oft dominantes Verhalten vorgeworfen, wenn sie sich nicht "regelkonform" verhalten. Häufig bekommt man dann zu hören, dass man sich eben seine Position als Herdenchef nicht streitig machen lassen darf. Das Autorenteam weiß es besser:

 „Pferde leben in - immer noch nicht vollständig erforschten - ausgeklügelten Sozialstrukturen. Es gibt Freundschaften, die auch über "Rangunterschiede" hinweg bestehen und diese sogar außer Kraft setzen.“ (S. 26)

Und als Selbstversorger mit einer Stutenherde im Offenstall mit Paddocktrail kann ich aus voller Überzeugung sagen: Ja! Völlig richtig - es lässt sich in der Tat immer wieder beobachten, dass die Herdenstruktur nicht linear von oben nach unten verläuft.

Die drei Autorinnen beschreiben nachdrücklich wieso und warum bestimmtes Verhalten auftauchen kann und warum dieses Verhalten eben nicht widersetzlich, sondern arttypisch ist:

 „Solange die landläufige Meinung darin besteht, dass jede noch so willkürliche Regung des Tieres auf scheinbare Dominanz zurückzuführen ist, werden Pferde schlichtweg dafür bestraft, arttypisches Verhalten zu zeigen.“ (S. 32)

Mythos Nr. 2: Mit Clickern belohnst Du die Angst!

Auch mit diesem Vorurteil wird gründlich aufgeräumt, denn so einfach ist die Sache nämlich nicht. Die Autorinnen erklären dem Leser ganz genau, was passiert, wenn man sein Pferd in einer Angstsituation clickert. Mehr verrate ich dazu nicht - da musst Du das Buch schon selbst lesen.  

Auswirkungen von (Dauer-)Stress

Generell wird der Leser für Stressanzeichen sensibilisiert. Es wird immer wieder auf das Ausdrucksverhalten des Pferdes hingewiesen und mit einfach nachzuvollziehenden Beispielen verdeutlicht, wie sich Angst, Stress und Furcht zeigen können bzw. welche Bewältigungsstrategien Pferde wählen. Besonders gut hat mir gefallen, wie dieses berühmte Beispiel erklärt wird:

Du kommst mit einem Halfter zu Deinem Pferd. Dein Pferd sieht Dich und sucht sofort das Weite.

Ich denke, dieses Beispiel kennt jeder - entweder aus eigener Erfahrung oder durch Berichte von Bekannten. Die geläufige Reaktion ist wohl, in die "Der will Dich doch verarsch*** - oder "Der faule Gaul!"-Schublade zu greifen. Doch Christine Dosdall, Viviane Theby und Kathrin Wycisk machen deutlich, wie Furchtkonditionierung funktioniert und der Mensch in diesem Fall zum Angstauslöser für das Pferd wird. 

Bestens dargestellt wird ebenfalls, dass es gar nicht immer die großen Reaktionen (z.B. Steigen) sein müssen - das Ausdrucksverhalten Deines Pferdes ist komplex und nicht jeder Vierbeiner schaltet auf Angriff. Sensibilisiert wird der Leser auf jeden Fall dafür, dass nicht nur Training, sondern auch Haltungsbedingungen enormen Stress bei Pferden erzeugen können. Im schlimmsten Fall wird Dein Pferd durch (Dauer-)Stress sogar krank. Die Erklärungen der Autorinnen sind fundiert und mit offensichtlich viel (biologischem) Fachwissen geschrieben.

Paddock Trail artgerechte Pferdehaltung
Auch unsere Ponys sind dank neuem Stall wesentlich entspannter - obwohl sie schon vorher im Offenstall gelebt haben. Alle Infos dazu gibt´s mit einem Click auf´s Bild.

Positive Verstärkung - yeah!

Der zweite Teil beschäftigt sich mit Fragen der Lerntheorie und zeigt viele Praxisübungen für (Angst-)Pferde auf.

Ich habe schon wirklich viele Bücher zum Thema positive Verstärkung bei Pferden gelesen. Und ich muss ganz ehrlich sagen: So eingehend, anschaulich und nachdrücklich habe ich die Theorie zum Click noch in keinem Buch gelesen. 

Die verschiedenen Begriffe positive und negative Verstärkung werden selbstredend gut verständlich erklärt. Darüber hinaus gibt es aber eben solche Ausführungen zu weiteren Begriffen, die ich in den anderen Büchern in dieser Ausführlichkeit ein wenig vermisst hatte. So werden z.B. die kontinuierliche und variable Verstärkung ebenso aufgegriffen wie Ausführungen zum Löschen und Ignorieren von Verhalten.

Für manche Übungen gibt es sogar Trainingspläne, so z.B. für das Kopfsenken. Und überhaupt wird auf die Wichtigkeit von Trainingsplänen eingegangen. An dieser Stelle hat mir der Hinweis, dass Trainingspläne eben nicht in Stein gemeißelt werden dürfen, sondern kontinuierlich überprüft werden sollten, ein wenig gefehlt. (Meine Erfahrungen zu Trainingsplänen und warum sie da sind, um geändert zu werden, findest Du im Bericht zum Chicken Camp!).

Aber auch das Targettraining findet seinen Platz im Praxisteil. Und wie Du weißt, bin ich ein großer Targetfan!


INFO

Mit dem Target-Training kannst Du Dir ganz viele Dinge erarbeiten! Ich habe z.B. schon Hühner auf Targets trainiert. Eine Aufgabe aus dem Hühnermodul 1 - die Farbunterscheidung - ist mittlerweile zu einer Lieblingsübung der Ponys geworden! Und für die Farbdiskriminierung muss Dein Pferd auch das Nasen-Target kennen:


Überhaupt gibt gerade der Praxisteil unglaublich viel Input! Die Idee ein Initiatorensignal einzuführen, also ein Signal, mit dem Dir Dein Pferd die Bereitschaft zum Training der Aufgabe geben kann, ist z.B. super spannend!  Die Übungen sind allesamt kleinschrittig und verständlich erklärt.

Wer jetzt denkt: "Och, die ollen Wattebauschwerfer!", dem sei mit den Autorinnen entgegnet:

"Dabei geht es nicht darum, Ihr Pferd für immer in Watte zu packen, sondern die Kriterien in kleinen, machbaren Schritten zu steigern" (S. 164).

Die Individualität macht´s!

Die Autorinnen sensibilisieren - für das Pferd und die eigene Person. So, wie sie darauf hinweisen, dass jedes Pferd auf Grund seiner eigenen Vorgeschichte, Entwicklung und Lernerfahrung seine eigene Schmerzgrenze hat, machen sie auch deutlich, dass man selbst nicht entgegen seinem eigenen Sicherheitsempfinden handeln muss. Es ist also völlig egal, ob der Pferdekumpel sich bei einer Übung "doch auch nicht so doof wie mein Pferd anstellt", denn jedes Tier muss individuell betrachtet werden. Ebenso spielt es keine Rolle, wenn sich die Stallkollegin immer ganz mutig im Umgang mit ihrem Pferd zeigt. Ich habe mich so ein wenig in Christine Dosdalls Erfahrungsbericht (S. 136) wiedererkannt: Beim Training mit ihrer Stute hat sie - zuweilen auch bei der Arbeit am Boden - eine Sicherheitsweste getragen. Da musste ich lächeln. Nicht, weil ich das doof finde - ganz im Gegenteil. Aber ich werde auch immer belächelt, wenn ich mit meinem (zugegeben sehr braven) Shetty Lilly-Lou mit der Kutsche fahre und einen Helm trage (#ichfahremithelm). Aber mal ehrlich: Safety first! Mach das, womit DU Dich sicher fühlst! Ganz egal, ob die anderen das seltsam finden.

Fahrpony Kutsche
Gerade beim Fahren: Safety first! Weißt Du eigentlich, was es mit dem Kutschenführerschein auf sich hat? Nein?! Dann click auf das Bild - und Du bekommst alle Infos!

Zusammengefasst: Das hat mir besonders gut gefallen

Das Thema Angst, Stress und Unsicherheit beim Pferd wird umfassend erläutert - von körperlichen und biologischen Hintergründen über Stressreaktionen bis hin zu Trainingsansätzen, die einem (Angst-)Pferd das leben wesentlich erleichtern können. Alles ist wunderbar verständlich und spannend erklärt.

Angereichert sind die Ausführungen mit persönlichen Erfahrungsberichten von Kathrin Wycisk und Christine Dosdall. Infoboxen und Checklisten schaffen zusätzlichen Input. Insbesondere im Teil, der sich mit dem Training mit positiver Verstärkung beschäftigt, sorgen Schaubilder für mehr Verständnis beim Leser: Damit sollten keine Fragen mehr zum Clickertraining und der Theorie, die dahinter steckt, offen bleiben. Das ist toll!


INFO

Biostickies gesunde Leckerlies für Pferde

Für´s Clickertraining benötigst Du - gerade am Anfang - ziemlich viele Leckerlis. Sie sollten daher klein und am besten gesund sein! 

Meine absoluten Clicker-Leckerli-Favoriten sind die *Biostickies, die Du im *Shop der Pferdeflüsterei kaufen kannst.

Sie bestehen aus 90% getrocknetem Wiesenheu und 10% Leinkuchenschrot und sind mit 6mm Durchmesser keine zu großen Brocken. Einfach toll!  Damit brauchst Du beim Füttern kein schlechtes Gewissen haben!

Die Biostickies gibt es in im 1 kg und 5 kg Beutel zu kaufen.


Was hat mir gefehlt?

Ein bisschen Probleme habe ich mit den Fotos. Das Positive vorweg: wer hier geschniegelte und gestriegelte Reiterladys in weißen Turnierhöschen oder Walle-Walle-Kleidern auf kunstvoll eingeflochtenen Pferden sucht, wird enttäuscht. Und das ist gut so. Die Fotos sind mitten aus dem Trainingsleben - und deshalb umso authentischer. Denn: That´s life, baby! Außerdem wurde kein Pferd für das Buchshooting in Angst und Schrecken versetzt - nur um des Fotos willen. Das ist prima.

Grundsätzlich sind die Fotos auch sehr anschaulich und verdeutlichen das Geschriebene. Auf S. 114 gibt es z.B. eine eindrückliche, fünf Fotos umfassende Reihe dazu, wie gutes Timing und die dazu gehörige Futterposition aussieht. 

Dennoch finde ich einige Fotos ungenügend. Nicht wegen dem dargestellten Inhalt, sondern der Bildqualität. Auf S. 40 gibt es zum Beispiel über eine Doppelseite ein Foto von Christine Dosdall und ihrer Stute Chance. Eine zu geringe Auflösung hat wohl dafür gesorgt, dass das gedruckte Bild völlig verpixelt erscheint. Gerade dieses Foto wäre eines meiner Lieblingsfotos, weil es eine so schöne Vertrautheit zwischen der Autorin und ihrer Stute ausdrückt. Der Ausdruck des Fotos wird jedoch durch die sehr schlechte Bild- bzw. Druckqualität massiv geschmälert. Leider ist das bei einigen Fotos der Fall - gerade dann, wenn es sich um groß abgebildete Fotos handelt. 

Das hat natürlich nichts mit dem Inhalt zu tun, schade finde ich es aber dennoch.  Mein persönliches Lesevergnügen wird durch die zuweilen mangelhafte Bildqualität ein wenig getrübt. 

Bei einem einzigen Foto fand ich den abgebildeten Inhalt aber wirklich nicht gut. Auf S. 168 wird super anschaulich und toll erklärt, wie viele Zwischenschritte für´s Verladetraining notwendig sind. Das dazugehörige Foto zeigt ein (natürlich super süßes!) Shetty im Hänger. Vielleicht ist es ein Foto aus dem Training und das Shetty wurde nie mit dem abgebildeten Pferdehänger gefahren - dann ist meine Kritik obsolet. Aber ich will an dieser Stelle trotzdem darauf hinweisen: Ich finde es nicht ok, Shettys im Pferdeanhänger ohne Shetty-Umbau zu fahren! Die Brust- und Heckstangen sind für Großpferde ausgelegt, d.h. die Shettys haben zum einen keinen Halt ohne "Anlehnungsstangen", zum anderen können sie sich ganz arg und böse an den Stangen stoßen - weil sie ja darunter durch passen. Also bitte: Ein Shetty muss genau so sicher transportiert werden wie ein Großpferd!

Mein Fazit

Das Buch bietet unglaublich viel Information und ist sicherlich ein Werk, dass ich mehr als einmal lesen werde. Denn ich glaube, die vielen, vielen und wichtigen (!) Infos, kann man bei einmal Lesen gar nicht komplett erfassen. 

Es ist aber auch ein unbequemes Buch. Denn wenn man den Inhalt ernst nimmt, was man wirklich tun sollte, bleibt es nicht aus, sich Gedanken über sein eigenes Pferd, die Haltungsform und die Interpretation des Pferdeverhaltens zu machen. Das ist sicherlich an der ein oder anderen Stelle schmerzhaft. Niemand hört gerne, dass das Pferdeverhalten, das man jahrelang als Faulheit oder Widersetzlichkeit interpretiert hat, womöglich auf Stress beruht. Und man selbst die Situation vielleicht sogar noch verschlimmert hat. Ebenso hört niemand gerne, dass der tolle super Einstellerstall mit den netten Stallkolleginnen und den vielen Annehmlichkeiten - oder der eigene Stall - vielleicht ein Teil des Problems sein könnte. 

Aber genau dieser Umstand macht das Buch so wertvoll. Wir müssen aufhören, Pferde(verhalten) in Schubladen zu packen ("Faule Socke!", "zickige Stute!", "darf man nicht reizen", "hat keinen Bock!" usw.). Wir müssen anfangen, uns Gedanken zu machen, warum sich Pferde so verhalten, wie sie es tun. Und wie wir damit umgehen wollen. Dafür leistet dieses Buch einen wertvollen Beitrag. Vielleicht sogar einen Meilenstein.

Angst Stress Unsicherheit beim Pferd
*Ungedingt Lesen!

Deshalb eine klare Leseempfehlung für ausnahmslos ALLE! Pferdebesitzer. Finde den Mut und setzte Dich mit der Thematik auseinander! Es lohnt sich.

Und mit den Worten der Autorinnen beende ich diesen Beitrag:

"Je mehr schöne Zeit Sie gemeinsam mit Ihrem Pferd verbringen, desto mehr zahlen Sie in Ihr Beziehungssparschwein ein." (S. 153)

 

In diesem Sinne

Be shettylicious! Ruth vom Team Shetty-Sport.